Über der Null-Ebene //
Auf der Donauplatte
Patricia Grzonka
Von Brigittes Balkon im 8. Stock aus sieht man über die Donau in Richtung Wiener Innenstadt. Der Himmel legt sich unendlich weit darüber. An diesem bleichen Februarnachmittag scheint die Sonne mild durch das Balkonfenster herein. Die Spatzen kommen zu Besuch: Sie schnabulieren aus den überwinternden Blumentöpfen – ein kleines Paradies. Man fühlt sich abgehoben und ein wenig wie auf einer Bergstation. „Das weiße Kuschelsofa mit den hellen Löckchen und dem krausen Fell ist gerade erst seit zwei Tagen hier“, erklärt meine Gastgeberin. Das weiße Sofa suggeriert eine Schneefläche auf dem Berg, und auch die Aussicht stimmt: In einiger Entfernung kann man den Stephansdom, die Kirche auf dem Mexikoplatz, das Riesenrad, das AKH oder Hundertwassers Fernwärmeturm erkennen. Aber auch eine Menge Baukräne, die das andere Ufer säumen. „Es bleibt der Strom, die Insel und der Himmel, wenn sie die Skyline drüben im Zweiten Bezirk verbaut haben.“
Brigitte ist eine von knapp 200.000 Bewohner*innen des Bezirks Donaustadt. Genau genommen lebt sie im Bezirksteil Kaisermühlen und noch genauer in der Donaucity, jenem Stadtteil, der erst seit 1996 im Entstehen ist. Dass hier weiter viel gebaut wird, liegt am kontinuierlichen Bevölkerungszuwachs seit den 1990er-Jahren, der Wien bald wieder so groß werden lässt wie im frühen 20. Jahrhundert, als die Stadt die meisten Menschen beherbergte. Städtebaulich ist die Donau City ein absurdes Konstrukt, ein nicht so richtig geplantes, eher zufällig entstandenes Konglomerat höchst unterschiedlicher Bauten – Neubauten – das teils auf einer ehemaligen Mülldeponie und teils auf einer überplatteten Autobahn errichtet wurde. Der saloppe Name „Donauplatte“ bezeichnet dieses Dach der Donauuferautobahn A22.
Ein Spaziergang im „Wohnpark Donau City“ ist immer nur eine Momentaufnahme. Alles verändert sich: Der heute gebaute zweite Tower von Dominique Perrault – DC2 – Home and Office – war ursprünglich als Pendant zur Wellenbau-Fassade von Turm Nr. 1 geplant; nach einem langen Baustopp und einer Adaptierung der Pläne wird er jetzt vorwiegend als Wohnturm errichtet. Das neue Studierendenheim des Architekturbüros Dietrich/Untertrifaller, das halb auf der U-Bahn-Trasse der U1 liegt, verfügt über 832 Appartments und einen Innenhof, dessen bereits im Februar positionierte Leuchtgirlanden charmant die leicht klaustrophobische Hofsituation überspielen. Die Bebauung dieses Teils von Wien geht zurück auf eine politische Entscheidung. Nachdem eine gemeinsame Expo der beiden Städte Wien und Budapest für 1995 gescheitert ist, wurden die Bebauungspläne neu ausgerichtet. Dass sich die Stadt nie so richtig um das Gebiet gekümmert hat, merkt man, wenn man die Qualitäten des Viertels sucht: Wo gibt es einen zentralen Platz? Wie kann ich mich orientieren? Wo treffe ich gern andere Menschen? Welche öffentlichen Einrichtungen sind hier zu finden?
Es gab Versuche, die Projekte zu bündeln, erzählt Brigitte. Gedacht war einmal an eine Uni, aber dass dann die Wirtschaftsuniversität an den Prater gebaut wurde – und diesem, nebenbei bemerkt, wertvollen Grünraum stiehlt –, ist ebenfalls Ausdruck eines politischen Willens. Ein Museum wollte hier eine Dépendance errichten, diese Idee jedoch ist im buchstäblichen Sand des Donauufers stecken geblieben. Ein Plus war die Copa Cagrana: jene informellen Standln, Imbisse und Beisln, die sich auf der Seite zum „Entlastungsgerinne“ ansiedelten. Vor ein paar Jahren wurden diese auf Befehl der Stadt geschleift, heute heißt es da CopaBeach. Auch dies ist Folge politischen Willens. Das Ringen zwischen privater Initiative, individueller Freiheit und bürokratischen Bestimmungen fällt selten zugunsten des populären Spaßes aus. Es sei denn, er bringt Kommerz. Brigittes Lieblingsobjekte auf der Platte sind Rampen. Rampen und Treppen verbinden alle möglichen Ebenen, die autofreie Nullebene mit den unterirdischen Ebenen zwei und drei und der „Diagonale“ miteinander – der zentralen Achse des städtebaulichen Masterplans, der noch vom Expo-Projekt stammt. Der Ebenenplan kam später von den Architekten Krischanitz und Neumann in den 1990er-Jahren. Die Rampen sind alles, was davon übrig geblieben ist, sie sind hoch, tief, schief, breit, schmal, bisweilen absurd. Sie stehen symbolisch für die fehlende Koordination und den minimalistischen Gestaltungswillen, mithilfe dessen die städtischen Planungsdefizite wieder ausgebügelt werden.
Als Brigitte in den Wohnpark Donau Cty übersiedelte, das war 1999, war sie unter den ersten Bewohner*innen des Delugan-Meissl-Balkens, eines massiven Blocks (die Architekten sind hier Namensgeber), der parallel zur Donau errichtet wurde. Sie war überhaupt oft eine der ersten: „Damals nämlich ging noch niemand in der Donau schwimmen, und jetzt ist das Ufer hier und die gegenüberliegende Donauinsel das reinste Freizeitparadies.“ Und: „Es fuhr auch noch niemand mit dem Rad. Heute spielt sich vieles unterirdisch ab: nicht nur die Motorisierten erreichen ihre Garagen über die Donauuferautobahn, auch die Fußgängerinnen weichen bei starkem Wind auf die Minus 3-Ebene aus – verbotenerweise.“
Brigitte arbeitete früher im Architekturzentrum Wien. Bei meinem Besuch der aktuellen Sammlungsausstellung dort fällt mein Blick auf den kurzen Film und das silberne Modell eines historischen Bauprojekts: schimmernde Y-förmige Baukörper, die sich ineinander verzahnen. Ein Modell der UNO-City von 1970, das aus dem Nachlass des Architekten Johann Staber stammt, der vor einigen Jahren praktisch vergessen und verarmt in Wien gestorben ist. Laut einem Kurier-Bericht vom April 2020 musste die Türe zu seinem Büro aufgebrochen werden, die Stapel an Dokumentationsmaterial und das Modell der UNO-City erregten die Aufmerksamkeit der eindringenden Arbeiter. Staber kam aus Graz, wo er an der TU studiert hatte, und arbeitete zunächst im Büro von Oswald Haerdtl in Wien. Seine Teilnahme am Architekturwettbewerb zum größten Wiener Bauprojekt seit dem Bau der Ringstraße mit 656 Einreichungen endete mit einem Überraschungscoup. Den internationalen Architekturwettbewerb gewannen internationale Büros: Das Team des argentinisch-amerikanischen Architekten César Pelli, die britischen Architekten BDP und die deutschen Fritz Novotny/Fritz Mähner. Alle diese Entwürfe jedoch wiesen angeblich gravierende Nachteile auf und Stabers Entwurf – der eines Nobody, dafür eines Österreichers – überzeugte durch die überall gewährleistete gleichmäßige Belichtung der Büros, durch die moderate Bauhöhe und durch die markante Y-Form der Baukörper, die wie das Logo einer Marke Signifikanz entwickelte. Die Legende sagt, diese genuine Entwurfsidee sei Johann Staber beim Betrachten des Verbindungsteils einer Vinyl-Single gekommen, jenes herausklippbaren schwarzen Mittelstücks der kleinen Schallplatte, das längst Geschichte ist. Der Spiegel schrieb süffisant verärgert: „Ein unbekannter Österreicher erhielt schließlich den Auftrag gegen die gesamte Architekten-Weltelite“, die entsprechend sauer war. Am 23. August 1979 wurde die UNO-City eröffnet. Sie war damit das erste fertig gestellte Bauwerk in diesem Bereich über der Donau.
Heute heißen die Wohnungen, die hier gebaut werden, Donauflats, und die Bedachungen vor dem Eingang zum Perrault-Gebäude nennen sich ‚parapluies‘ entsprechend ihrer schirmähnlichen Erscheinungsweise. Sie mussten errichtet werden um den Wind, der hier oft gnadenlos bläst, zu brechen. Alles verändert sich, die Diagonale, jene schräge Achse des ersten Masterplans, ist zwar noch da, aber markant gekappt und wird vom neu entstehenden Bildungscampus gegen die Donau abgeschnitten. Was hier entsteht? Eine Schule mit undurchsichtigen Absichten. Auf den großflächig aufgestellten Bautafeln mit den hübschen Renderings fehlt jede profunde Information. „Weißt du, ich habe recherchiert“, erklärt meine Begleiterin, „der Name der Schule ist ‚Stella‘, es ist ein Projekt von Opus Dei.“ Wie? Opus Dei, jene erzkatholische Vereinigung, die unter Frankos Faschismus in Spanien gegründet wurde und sich weiter weltweit ausbreitet. Die Stadt Wien hat das Planungsheft dafür völlig aus der Hand gegeben und kümmert sich nicht darum. In der Nähe des Vienna International Center – der UNO-City – ist das ein sehr attraktiver Standort.
„Es ärgert mich, dass mit einem an sich so fabelhaften Ort städtebaulich so nachlässig umgegangen wird. Wenn man andere Städte dazu vergleicht, kann es einen erschüttern. Die ambitionierten Planungsansätze, die es einmal gegeben hat, sind immer mehr verwässert worden und jetzt scheint das Bauen hier nur mehr wurscht zu sein.“
Mittlerweile sind wir wieder beim Ströck angekommen, der Kaffee-Bäckerei, bei der wir uns getroffen haben. Er ist die ganze Seele dieses Stadtteils. Mir bleiben Brigittes Worte im Ohr: „Ich bin hierher gezogen, weil es mich gereizt hat, an einen Ort zu ziehen, der keine Geschichte hat, in eine Wohnung, wo noch nie jemand gewohnt hat, an einen Ort, wo noch nie etwas gestanden ist.“
Patricia Grzonka
(Kunst- und Architekturhistorikerin sowie -kritikerin)